Am Anfang war....

Über die Gründung und Entwicklung des Stuttgarter Märchenkreises.

1956 wurde die Gesellschaft zur Erforschung und Pflege des europäischen Märchengutes, die jetzt Europäische Märchengesellschaft heißt, (EMG) mit Sitz in Rheine-Westfalen gegründet. Die jährlichen Kongresse wurden auch von Erzählerinnen und Erzählern aus dem Stuttgarter Großraum besucht. Manche lernten sich dort erst kennen.

Nachdem drei Mitglieder aus Stuttgart (Arnica Esterl, Sigrid Früh und Christoph Bloss) 1988 einen Kongress für die EMG in Karlshafen an der Weser ausgerichtet hatten, konkretisierte sich der Wunsch, die Märchenfreunde in und um Stuttgart zusammen zu rufen und zu versuchen, auch hier eine gemeinsame Aktivität, eine durchgehende Arbeitsgruppe zu initiieren. Christoph Bloss schrieb alle uns hier bekannte Märchenerzählerinnen und Erzähler sowie die Märchenforscher und Kulturschaffenden an. Viele kamen, darunter Frau Ursula Schleicher- Fahrion vom Kulturamt der Stadt Stuttgart und Professor Uta Kutter von der Hochschule für Musik und darstellende Kunst. Viele Vorschläge wurden gemacht und am 11. Februar 1989 wurde ein Verein gegründet, ein Protokoll geschrieben, eine Satzung ausgeheckt und unterschrieben, ein Vorstand gewählt (Arnica Esterl, Christoph Bloss und Brigitte König) und eine Eintragung ins Vereinsregister beantragt.

Der Name des Vereins wurde uns per Post zugeschickt: Wir bekamen einmal völlig unbegründet und unerwartet einen Brief an den "Stuttgarter Märchenkreis" zugestellt. Ach, warum den Namen nicht übernehmen? Wer der Absender war, haben wir nie erfahren.

Die Zahl der Mitglieder hat dann stetig zugenommen, die Arbeit auch.

Eine feste Bleibe hatten wir die ersten Jahre in der Buchhandlung Clausnitzer bei Anneliese Ströbel. 'Zeit für Märchen' oder 'Der erste Donnerstag im Monat' hieß die Devise. Was dort alles erzählt, angehört, besichtigt und kritisiert wurde, kann hier gar nicht aufgezählt werden. Die Buchhandlung war die Wiege so mancher bis heute fortdauernder Erzählkunst.

Aber auch Erzählabende, Seminare und Vorträge über Märchendeutung und Märchenforschung im Forum 3 sowie die "langen Erzählnächte" dort, die von 20.00 Uhr bis Mitternacht dauerten, lockten ein bunt gemischtes Publikum an.

Die Erzählstunden für Kinder und Erwachsene auf den Stuttgarter Buchwochen gehörten bald zum Jahresprogramm.

Ein Höhepunkt war die Teilnahme an der Internationalen Gartenbau Ausstellung 1993 in Stuttgart, wo wir auf der Streuobstwiese und im eigens aufgestellten Kinderzelt erzählten.

Alle drei Jahre wurde eine Wochenendtagung mit Vorträgen und den sehr beliebten künstlerischen Seminaren - etwa in Malen, Holzbildhauerei oder Pantomime - durchgeführt, zu der viele Teilnehmer aus dem weiteren Umkreis der Stadt kamen.

Von Anfang an waren die Lernkurse von Januar bis März sehr begehrt und beliebt, so manche Erzählbegabung wurde hier entdeckt.

Es kamen aber auch bald Anfragen und Einladungen zum Erzählen: etwa zur Weihnachtsfeier des Schwäbischen Schwimmerbundes, von Frauengruppen zum Frühstück, von Fastengruppen, Bibliotheken, Altenheimen und Seniorenkreisen.

Viele Kindergärten, ganze Grund- und Hauptschulen, aber auch Gymnasien, die Märchenprojekte durchführen wollten, baten um einen Projektplan. So manches Schulkind hat auf diese Weise das freie Erzählen kennen gelernt. An einigen Schulen waren wir regelmäßig alle zwei Jahre präsent, die Schüler kannten schon die Erzählenden und wussten nach zwei Jahren noch, was sie gehört hatten. Und die anfänglich skeptischen Lehrerinnen bekannten nach einer solchen Projektwoche: Die Schüler haben mehr Deutsch gelernt als in einer Woche mit konventionellem Unterricht.

Wir erzählten an Geburtstagen, in Museen, zu Festivals, auf Weihnachtsmärkten, Straßenfesten und und und...

"Bitte erzählen", hieß es. Oder: "Bitte über die Märchen sprechen, denn manche Mütter haben Angst vor dem bösen Wolf!"

1999 feierten wir unser zehnjähriges Jubiläum mit einem Preisausschreiben für Schulklassen, mit einem Vortrag von Professor Dr. Hermann Bausinger aus Tübingen, mit einem Figurenspiel von der "Kleinsten Bühne der Welt" aus München und mit einem Erzählabend im Karl-Adam-Haus über das Märchen 'La belle et la bète', in Zusammenarbeit mit Studenten der Sprecherziehung an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst.

Noch heute gehören die Erzähltage im Freilandmuseum Wackershofen und Beuren, das monatliche Erzählen im Schloss Waldenbuch, die Nellmersbacher Märchentage, die lange Erzählnacht in Eppingen oder die Muttertagswanderung zum festen Jahresablauf.

Die Vorstandsarbeit wurde weiter gereicht, die Zahl der Erzählenden hat kontinuierlich zugenommen, der 'Januarkurs' erfreut sich großer Beliebtheit. Es bilden sich nach diesen Kursen immer wieder kleine Erzählergruppen, die selbständig regelmäßig weiter üben. Und auch für diejenigen, die sich intensiver mit der Qualität des Erzählens, mit den Ergebnissen der Märchenforschung oder mit dem Sinngehalt der Märchen befassen möchten, werden Seminare angeboten.

Im März 2007 hat der Stuttgarter Märchenkreis an dem Weltgeschichtentag teilgenommen, der allerorten mit einer Fülle von Veranstaltungen, Lesungen und Erzählstunden begangen wird, und auf Einladung der Bezirksvorsteherin im Stadtteil Degerloch für jung und alt klassische ernste und lustige Märchen erzählt.

Viel haben wir gelernt: etwa an welchen Orten oder unter welchen Bedingungen es nicht möglich ist, die Stimmung und Ruhe zum Erzählen herzustellen; oder dass Märchenerzählen eine leise, intime Kunst ist und trotzdem auf den Treppenstufen des kleinen Schlossplatzes möglich sein kann.

Denn Märchenerzählen ist wie musizieren und Rosen züchten. Man muss viel üben, Stimm-, Farben- und Fingerspitzengefühl entwickeln. Dann fangen die Märchen an zu leuchten und zu klingen, denn dann fangen die Märchen an sich selbst zu erzählen.

Diese Kunst wollen wir weiter üben und verbreiten, damit die Menschen, Alte und Junge, Heimatkundige und Weitgereiste, Melancholische und Buntgekleidete, Gelehrte und Staunende aus Stuttgart und allen Gegenden unserer Erde miteinander ins Gespräch kommen, wieder zuhören und sprechen lernen.


(Wir danken unserer Ehrenvorsitzenden Arnica Esterl für diesen Beitrag!)

 
 
 
 
 
 
 
 
 
Zurück zur Startseite